Interview mit MD-Psychiaterin (Spiegel Artikel)

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    • Interview mit MD-Psychiaterin (Spiegel Artikel)

      "Champagner der Gefühle"


      Die US-Psychiaterin Kay Jamison über Menschen mit chronisch guter Laune und ihr Leben als manisch-depressive Professorin


      Jamison, 59 lehrt als Professorin für Psychiatrie an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland, und gilt als Autorität auf ihrem Gebiet der manischen Depression. Für Aufsehen sorgte sie mit ihrem Bekenntnis selbst unter krankhaften Stimmungsumschwüngen zu leiden. In ihrem jüngsten Buch beschäftigt sie sich mit Menschen, die auffällig überschwänglich sind.


      SPIEGEL: Bislang ging es Ihrer Arbeit um Selbstmord, Depression und Manie. Nun legen Sie ein Buch über Menschen mit permanent guter Laune vor - um sich selbst aufzuheitern?

      JAMISON: Nein, das Phänomen hat viel mit meiner täglichen Arbeit in der Klinik zu tun. Wenn ein Patient auffällig überschwänglich wirkt, ist das oft ein erstes Anzeichen für eine manische Phase. Bei der Recherche merkte ich, dass ich mich Neuland begebe: Über Manie ist sehr viel geforscht worden - über Enthusiasmus fast gar nicht.

      SPIEGEL: Es gibt doch auch Menschen, die einfach gut drauf sind, ohne dass dies gleich pathologisch sein muss.

      JAMISON: Ja, um die geht es mir großenteils in diesem Buch. Diese Enthusiasten sind unglaublich neugierig, zukunftsorientiert, konzentriert, kreativ und reißen ihre Umgebung mit. Enthusiasmus ist ohnehin ein wunderbares Wort, es leitet sich aus dem Griechischen ab: "Enthos" - der innere Gott.

      SPIEGEL: Geben Sie uns doch mal ein Beispiel für eine enthusiatische Presönlichkeit.

      JAMISON: Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton zum Beispiel ist absolut hinreißend. Sobald der einen Raum betritt, sind die Leute bezaubert von ihm - sogar als er einmal frisch entlassen aus dem Krankenhaus kam. Er ist unglaublich neugierig. Manchmal, wenn er unbedingt etwas wissen will, ruf er Leute mitten in der Nacht an. Ein ähnlicher Typ is auch der Virologe Carleton Gajdusek, der für seine Erforschung der Gehirnkrankheit Kuru den Nobelpreis bekommen hat. Er ist lgendär für seine endlos langen, sehr witzigen Monologe. Ich versuchte einmal nach einem Dinner aufzuschreiben, worüber er alles geredet hat: Immunologie, das FBI, Rattengift, Plato, Schizophrenie. Irgendwann habe ich es dann aufgegeben. Als er den Nobelpreis bekam, brachte er die gesamte Zeromonie durcheinander, weil seine Rede statt 45 Minuten zwei Stunden dauerte. Aber alle waren begeistert - sogar die Veranstalter.

      SPIEGEL: In ihrem Buch stehen auffällig viele Interviews mit Wissenschaftlern - neigen die eher zu Enthusiasmus?

      JAMISON: Das glaube ich nicht, ich denke, dass in jeder Bevölkerungsgruppe so etwa acht bis zehn Prozent star enthusisastisch sind. Aber ich muss zugeben, dass mich diese Berufsgruppe reizte, weil Wissenschaftler oft in der Öffenlichkeit als emotionslos, kalt und langweilig dargestellt werden. Dabei sind viele von ihen sehr unterhaltsam.

      SPIEGEL: Wer ist ihr persönlicher Favorit unter den Enthusiasten?

      JAMISON: Das extreme Beispiel dürfte der US-Präsident Theodore Roosvelt gewesen sein. Er liebte das Leben, er liebte die Natur, er liebte die Arbeit - und er liebte sogar den Krieg. Er fand einfach alles toll, was er anpackte. Mit 42 wurde er zum jüngsten Präsidenten der USA - und zum lebhaftesten. Auch als Erwachsener kriegte er sich zur Weihnachten kaum ein vor Freude über die Geschenke. Als am Valentinstag 1884 gleichzeitig seine Frau und seine Mutter starben, stürzte er sich umso fieberhafter in die Aktivität, schrieb unzählige Bücher, ging jagen und gründete eine Rinderfarm. Grübel, Zweifel und Trauer scheint es in seinem Leben nicht gegeben zu haben.

      SPIEGEL: Das klingt weniger nach einem "inneren Gott" als nach Verdrängung und Flucht in die Arbeit.

      JAMISON: Enthusiasmus ist ja auch ein zweischneidiges Persönlichkeitsmerkmal. diese Charaktereigenschaft kann sehr hilfreich sein - aber auch sehr gefährlich. Einserseits setzt sie viel Energie frei - andererseits kann sie auch zu auch zu Rücksichtslosigkeit führen, sich um anderen gegenüber. General George S. Patton Jr. zum Beispiel war ein mitreißender Kommandeur und ein genialer Stratege im Zweiten Weltkrieg; aber in seinen Hassreden neigte er zu militaristischer Hysterie, und unter seinem Kommando sollen sogar Gefangene erschossen worden sein.

      SPIEGEL: Kann die notorisch gute Laune auch für die Enthusiasten selbst zum Problem werden?

      JAMISON: In der Tat, manchmal geht Enthusisasmus zu Lasten der Kritikfähigkeit. Und Enthusiasten können für die Umgebung anstrengend und belastend sein; ihre ständige Begeisterung geht ihren Mitmenschen irgendwann auf die Nerven - oder sie verursacht bei den anderen Minderwertigkeitskomplexe. Wer immer gut gelaunt erscheint, hat es also nicht unbedingt leichter. Manche Leute denken: Je langweiliger und zurückhaltender ein Mensch auftritt, desto intelligenter und subtiler ist er - nach dem Motto: Stille Wasser sind tief. Daher werden Enthusiasten oft nicht ernst genommen. Ein britischer Dipolmat scherzte zum Beispiel über Roosvelt, als dieser mal wieder mit seinen Kindern im Weißen Haus Fangen spielte: "Sie müssen wissen, der Präsident ist ungefähr sechs Jahre alt."

      SPIEGEL: Sind Amerikaner generell enthusiastischer als andere Völker?

      JAMISON: Schwer zu sagen, aber in der Tat waren die Pilgerväter, die Amerika besiedelten, nicht so miesepetrig drauf, wie gern behauptet wird. Zumindest wird heute in den USA Enthusiasmus als nationale Tugend inszeniert. Das kommt nicht überall gut an. In Europa muss ich mich immer sehr zusammenreißen, weil gute Laune dort leicht als hysterisch wahrgenommen wird.

      SPIEGEL: Wie schwierig ist das Thema gute Laune für persönlich? Schließlich litten Sie selbst jahrelang an manischer Depression.

      JAMISON: Viele Menschen mit bipolarer affektiver Störung neigen auch zu besonders starkem Enthusiasmus. Ich selbst war als Kind umgeben von Enthusiasten; mein Vater und seine Freunde waren unglaublich neugierig und unterhaltsam. Ich liebte das. Aber mit 17 merkte ich, dass sich meine eigene überschäumende Begeisterung manchmal bis zur Manie steigerte. Ich dachte, ich hätte das unter Kontrolle. Auch als Psychologiestudentin wollte ich meine Krankheit nicht wahrhaben.

      SPIEGEL: Und tatsächlich kamen Sie ganz gut zurecht und schlossen Ihr Studium ab.

      JAMISON: Ja, aber die Krankheit wurde immer schlimmer, ich hätte sie deutlich früher behandeln lassen sollen. Als ich dann Professorin wurde in Kalifornien, passierte es: Ich fühlte mich phantastisch, war sehr produktiv, feierte viel - und nach ein Monaten schlitterte ich in eine wilde Psychose. Ich rannte nachts rastlos rum, tagsüber ging ich wie irre shoppen, bis ich tief verschuldet war - was wiedrum eine Depression nach sich zog und so weiter. Wenn Enthusiasmus der Champagner unter den Stimmungen ist, dann ist die Manie das Kokain.

      SPIEGEL: Was sagten ihre Kollegen, als Sie Ihr Psychso-Coming-out hatten?

      JAMISON: Ein paar Leute waren schockiert, andere sagten nur: "Das habe ich mir gleich gedacht!"

      SPIEGEL: Was hielten Ihre Patienten davon, durch eine manisch-depressive Professorin behandelt zu werden?

      JAMISON: Die sind damit sehr gut umgegangen. Aber ich habe immer klar gemacht, dass ich meine Medikamente nehme und all meine engen Kollegen eingeweiht habe - für den Fall einer akuten Manie oder Depression.

      SPIEGEL: Sind die vielen Feiertage im Winter eigentlich besonders belastend für manisch-depressive Menschen?

      JAMISON: Nein, sogar eher im Gegenteil: Dezember und Januar sind die Monate mit den niedrigsten Selbstmordrate.

      INTERVIEW: HILMAR SCHMUNDT
    • Danke, Colt! Interessanter Artikel.

      Das war mir neu:
      Enthusiasmus ist ohnehin ein wunderbares Wort, es leitet sich aus dem Griechischen ab: "Enthos" - der innere Gott. Aber es stimmt.

      Das war mir nicht neu:
      Wenn Enthusiasmus der Champagner unter den Stimmungen ist, dann ist die Manie das Kokain.
      Und es stimmt.


      Über chronische gute Laune kann ich nicht klagen, aber meine innere Göttin werde ich feiern, auch wenn so viele das als nicht angemessen empfinden. Ich bin ERWACHSEN - genau so.
      Wahrscheinlich werde ich noch als skurile, bunte Omi durch die Strassen tattern.
      Und über mich selbst und die (fiese) Welt lachen.

      In diesen Tagen kann ich mich selbst allerdings kaum ertragen.
      Und zum lachen ist mir auch nicht.

      ><
      µ
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    • Verschiedene Sichten...

      Hallo,

      es ist sicher interessant, dass dieser Artikel in der Mailing-Liste des BPE (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener) überaus negativ diskutiert wird.

      Hier glaubt man/frau die Warnung vor zuviel Enthusiasmus als mögliche Kreation eines neuen Krankheitsbildes sehen zu müssen. (Wobei angeführt wird, dass die Anzahl der psychiatrischen Diagnosen von 102 in 1952 auf 365 in 1994
      gestiegen ist, was sicher sehr bemerkenswert ist.)

      Ist offenbar immer eine Frage der Perspektive...

      Herzl. Gruß

      Peter
      You'll never gonna change anything!

      (John Rambo in Rambo IV)
    • Verschiedene Sichten...

      Hallo,

      es ist sicher interessant, dass dieser Artikel in der Mailing-Liste des BPE (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener) überaus negativ diskutiert wird.

      Hier glaubt man/frau die Warnung vor zuviel Enthusiasmus als mögliche Kreation eines neuen Krankheitsbildes sehen zu müssen. (Wobei angeführt wird, dass die Anzahl der psychiatrischen Diagnosen von 102 in 1952 auf 365 in 1994gestiegen ist, was sicher sehr bemerkenswert ist.)

      Ist offenbar immer eine Frage der Perspektive...

      Herzl. Gruß

      Peter
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      (John Rambo in Rambo IV)