Die Erotik der Masse 2.0 (Vorsicht: Handtuch !)

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    • Die Erotik der Masse 2.0 (Vorsicht: Handtuch !)

      ist ein Spiegelonline-Artikel heute überschrieben, der auf Elias Canettis´"Masse und Macht" recursiert - ein Buch auf das man gar nicht oft genug hinweisen kann....
      Neben "die Fackel im Ohr" etc. war es sicher eines der Bücher, für das Elias Canetti letztlich doch auch den sehr verdienten Literaturnobelpreis bekam, wenn auch etwas spät...

      spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,638032,00.html

      "
      Twitter statt Molotow-Cocktails: Protestler und Machthaber
      fechten in diesem Sommer in Iran und China einen komplexen Kampf aus.
      Elias Canettis Standardwerk "Masse und Macht" verdeutlicht, wie sich
      Menschen führerlos organisieren. Am Web 2.0 hätte der Nobelpreisträger
      seine helle Freude gehabt.

      Kaum ein Philosoph hat den Massentrieb der Menschheit und die
      Strukturen der Gewaltherrschaft so leidenschaftlich zu ergründen
      versucht wie Elias Canetti. Sein Hauptwerk "Masse und Macht" wurde nach
      20-jähriger Arbeit 1960 veröffentlicht; 1981 wurde Canetti unter
      anderem dafür der Nobelpreis verliehen. Es geht um Macht und Ohnmacht,
      um Leben und Tod - und wenn man die heutigen Konflikte in Iran und
      China betrachtet, dann scheint es fast, als hätte Canetti vor 50 Jahren
      einen 500 Seiten langen Brief an die Zukunft geschrieben.

      Canetti bringt uns historische Abläufe als Phänomen des Massentriebs
      bei; er begreift die Geschichte weder als eine Parade von
      charismatischen Persönlichkeiten noch als Klassenkampf. Stattdessen
      wird sie von spontanen Menschenmengen vorangetrieben, von Massen, die
      zur Machtbildung führen. Im Weltbild Canettis bestimmen durchaus
      durchschnittliche Menschen, die zueinander finden, das Schicksal, weil
      sie selbst am Rad der Geschichte drehen. Schreitet die Weltgeschichte nach Karl Marx gesetzmäßig voran,
      schlängelt sich die canettische Menge unberechenbar und radikal durch
      die Landschaft, mal als herausschwärmende Love Parade, mal als
      marodierende Heereskolonne. Am Internet und seinen
      Kommunikationsmöglichkeiten hätte Canetti wohl seine helle Freude
      gehabt. Die radikalen Perspektiven der interaktiven Web-Technologien,
      die Bedingungen für eine "Masse 2.0," wie sie heute auf den Straßen
      Teherans sowie in China Woche für Woche zu erleben sind, lassen
      Canetti, den Anarchisten der Zeitläufe, wieder so modern erscheinen.



      Protestmassen, so Canetti, sind lernende Organismen.


      Hat Sigmund Freud in seinem Werk die libidinösen Beziehung der Masse
      zu einem charismatischen Führer in den Vordergrund gerückt, betont
      Canetti die Erotik der Masse an und für sich. Denn seiner Ansicht nach
      befreit sich der Mensch von seiner Urangst vor Unbekanntem, von seiner
      so genannten Ich-Grenze, nie allein, sondern immer nur als Teil einer
      Masse.

      Profan ausgedrückt: Allein machen sie dich ein, gemeinsam sind wir
      stark. Canetti interessiert sich allerdings eher für die
      psychologischen Prozesse, die sich in Menschenmassen abspielen: So
      beschreibt er den Höhepunkt des Massenerlebnisses als "Entladung", in
      dem "Trennungen abgeworfen werden und sich alle gleich fühlen."

      Protestmassen, so Canetti, sind lernende Organismen. Wie Recht er
      hat, lässt sich in Teheran beobachten. Um die ätzende Wirkung von
      Tränengas einzudämmen, entfachen Demonstranten in Teheran in diesen
      Wochen kleine Feuerstellen in der Menschenmenge. Die Flammen verzehren
      das Gas. Manchmal reicht auch schon eine Zigarette, die man sich
      während eines Gasangriffs der Polizei vor das Gesicht hält, um die
      Gas-Attacke abzuwehren.

      Die Opposition in Iran weiß, dass niemand ihr von außen zu Hilfe
      kommen wird. Sie ist auf sich gestellt, ihr einziger Schutz ist die
      Menschenmasse, zu der sie sich aufbaut. Deshalb ließ die Machtclique
      Ahmadinedschads schon kleinste Menschenansammlungen zusammenknüppeln,
      vermutlich Tausende Demonstranten verschwanden nach Schätzungen von
      Menschenrechtsorganisationen bereits in den Kerkern der Regimes. Weil
      die öffentliche Straße als Protestraum zu gefährlich wurde, zogen sich
      die Protestierenden nachts auf die Dächer zurück - und lobten dort
      Allah, eine massenhafte Reminiszenz an die Revolution von 1979.

      In China sind die gesellschaftlichen Spannungen ganz anderer Natur,
      die menschliche Neigung aber, Schutz und Halt in der Masse zu suchen,
      bleibt dieselbe. Im letzten Monat demonstrierten Zehntausende in der
      Stadt Shishou nach dem ungeklärten Tod eines Kochs, den die Polizei als
      Selbstmörder verbuchen wollte. Tausende stellten sich um die Leiche, um
      sie als Beweismaterial zu schützen und nicht zuzulassen, dass sie
      verschwindet.

      In der Provinz Guizhou strömten ein Jahr zuvor 30.000 Menschen in
      die Straßen, um ihr Misstrauen gegen die lokale Justiz zu
      demonstrieren. Man bezichtigte die Polizei der Vertuschung eines
      Mordes; es ging damals um das mysteriöse Ertrinken eines 17-jährigen
      Mädchens. Diese sogenannte Weng'an-Unruhe dauerte sieben Stunden,
      Regierungsgebäude wurden in Flammen gesetzt.

      Die Bildung von solchen Flashmobs gleicht einer Art
      gesellschaftlicher Sturzflut, und wird durch das Internet, Blogger
      sowie chinesische Varianten von Twitter wie Fanfou in den letzten
      Jahren rasant beschleunigt und vervielfacht. Bevor die Polizei
      eingreifen kann, haben sich die Massen längst versammelt.


      Durch die neuen Technologien ist die neue Masse, anders als zu Zeiten Canettis, kaum anonym und gesichtslos.


      Solche Sturzmassen sind für autoritäre Machthaber auch deshalb so
      unberechenbar, weil sich der Mensch, so Canettis Hauptthese, in der
      Masse tatsächlich verwandelt. Menschen verlieren ihre alten Ängste,
      schütteln als erstes die über Jahre eingebläute Furcht vor der Polizei
      ab. Diktaturen aber sind nicht nur auf Gewalt, sondern vor allem auf
      Einschüchterung gebaut. Gerät dieser psychologische Hauptbaupfeiler
      eines jeden autoritären Regimes ins Wanken, greift Angst bei den
      Herrschenden um sich.

      So auch in Teheran und Peking: Geradezu panisch reagierten die
      Machthaber im chinesischen und iranischen Polizeistaat auf die
      bloggenden und twitternden Massen, die Masse 2.0. Bei Durchsuchungen
      suchten Polizisten und Spitzel nicht nach versteckten Molotow-Cocktails
      - sondern nach Fotohandys und kritischen E-Mails in den Accounts.

      Durch die neuen Technologien ist die neue Masse, anders als zu
      Zeiten Canettis, kaum anonym und gesichtslos - das zeigt der Fall der
      ermordeten 27-jährigen Neda Agha-Soltan, die inzwischen zu einer Ikone
      des Protests wurde, und deren Tod den Protest in Iran immer wieder aufs
      Neue entfacht. Auch im wilden Westen Chinas kennt man die Namen und
      Geschichten nicht weniger Gefallene, die im ethnischen Konflikt
      zwischen Uiguren und Han-Chinesen ihr Leben ließen.

      Aber wenn die neue Masse aus Tausenden individuellen Gesichtern
      gebildet wird, so erscheint sie insgesamt auf seltsame Weise kopflos.
      Denn die neue Masse kann sich dank interaktiver Technologie
      zusammenfinden, ohne dass charismatische Führer als Zugpferde nötig
      sind. So erscheint auch der Ahmadinedschad-Gegner Mussawi nicht so sehr
      als starker Anführer, der die Massen in seinen Bann geschlagen hat -
      eher umgekehrt. Die Protestwelle trägt ihn vor sich her.
      Die Anführer der neuen Masse sind im Zweifel eher Blogger wie
      Modschtaba Saminedschad, die behaupten, es würde reichen, für eine
      Figur wie Mussawi einfach Respekt zu hegen, oder der chinesische
      Blogger Zola, der den Weng'an-Aufstand in Guizhou koordinierte.
      Für die großen, paranoischen Führer der Massen interessierte sich
      der 1905 in Bulgarien geborene Jude Canetti in Wirklichkeit kaum, nicht
      mal als er 1938 Wien verließ, um ins Exil nach London zu gehen. Sein
      Interesse galt immer der amoralischen Masse, der Untiefe der
      Menschenseele, die Massenbewegungen erst möglich machen.


      China entwickelt sich auf überlegene Weise zum wendigen Botschafter in eigener Sache.



      Sorry Leute,
      aber selbst wenn es Euch nicht interessiert:
      Eure Kinder und Enkel werden diesen Artikel
      vielleicht um so aufmerksamer lesen, falls Ihr
      ihn ausdruckt und in die Erbmasse werft...;-.)))

      liebe Grüsse !
      Eule4
      "So sehr die Gegenwart sich um den Beweis ihrer Alternativlosigkeit auch bemüht, wird sie dennoch von der Zukunft abgelöst."


      Felix Kriwin
    • Fortsetzung ( waren mehr als 10 000 Zeichen)....

      und ich finde, den Artikel sollte man zuende lesen...

      "

      China entwickelt sich auf überlegene Weise zum wendigen Botschafter in eigener Sache.


      Mit nahezu wertfreier Präzision beschreibt der promovierte Chemiker
      Canetti die verschiedenen Arten von Massen und Meuten im Lauf der
      Geschichte: Hetzmassen und Festmassen, Jagdmeuten und Kriegsmeuten
      sowie aber auch die bäuerliche Menge, die nur auf friedliche Vermehrung
      aus ist. Während die Massen in Iran höchst modern agieren, wirken sie
      in China hingegen eher archaisch. Bei den Machthabern scheint es genau
      umgekehrt zu sein. In Iran mischten sich in Zivil getarnte Paramilitärs
      in die Protestzüge, um als gemeine Schläger die Geschlossenheit und
      Vertrautheit zu unterwandern und niederzuknüppeln.

      In China hat der Präsident Hu Jintao nicht nur die perfekt
      uniformierte Volksarmee in Westchina marschieren lassen, sondern längst
      selbst neue Medientheorien für die neue Masse entwickelt. Weil
      heutzutage fast jeder Mensch in entwickelten Gesellschaften mit einem
      Handy - und damit auch mit Mikrofon und Kamera - ausgestattet ist, hat
      der Staat einfach keine Option mehr, Protest totzuschweigen, wie man es
      in Iran beim Wahlbetrug und dem Nuklearprogramm noch vergeblich
      versuchte.

      Es kann nach Hu Jintao in diesem Sinne keine Staatsgeheimnisse über
      gesellschaftlich relevante Ereignisse mehr geben. Stattdessen muss der
      Staat danach streben, weltweit der souveränste Spindoktor zu sein. In
      China ist dies in diesen Wochen gelungen, für den Konflikt wird nicht
      der Staat hauptsächlich verantwortlich gemacht. Die ganze Welt blickt
      auf die Straßengewalt eher als ethnischen Konflikt, in die Uiguren oder
      Tibetaner verstrickt sind. Wo man sich in Iran an Staatsgeheimnisse
      klammert - von Diktatoren seit eh und je geliebt - entwickelt sich
      China auf überlegene Weise zum wendigen Botschafter in eigener Sache. Dennoch brechen für Diktaturen harte Zeiten an, und der Protest
      bleibt nicht nur virtuell. Wie die letzten Wochen zeigen, bleibt das
      Katz - und Mausspiel zwischen Massen und Mächtigen ein Spiel auf Leben
      und Tod - bis entweder die protestierende Masse oder die regierende
      Macht das Gegenüber zum Aufgeben des Kampfes gezwungen hat."
      Sodele, jetzt kann mein pedantisch-pseudopietistischr schwäbischer Geist auch wieder RUHE finden...
      :rolleyes:

      Eule4
      "So sehr die Gegenwart sich um den Beweis ihrer Alternativlosigkeit auch bemüht, wird sie dennoch von der Zukunft abgelöst."


      Felix Kriwin