"Wir sehen keine Patienten, wir sehen Daten." - Das Business mit der medizinischen Forschung

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    • "Wir sehen keine Patienten, wir sehen Daten." - Das Business mit der medizinischen Forschung

      In Kalifornien wurde ein Wissenschaftler des Pharmakonzerns Sanofi-Aventis verhaftet, weil er mit einer geladenen Pistole herumgefuchtelt hatte – in seiner Unterhose fand sich dann ein Päckchen Kokain. Einem Forscher in der Psychiatrie von Oklahoma City wurde die ärztliche Zulassung entzogen, nachdem er zwei Patientinnen mit Genitalherpes infiziert hatte. Anschließend musste die staatliche Arzneimittelkontrollbehörde FDA (Food and Drugs Administration) gegen den Mann ermitteln, weil er eine Versuchsperson in seinen Laborräumen eingesperrt hatte. In Miami deckten Reporter der Zeitschrift Bloomberg Markets auf, dass SFBC International, eine Firma, die ihr Geld mit Auftragsforschung verdient, Arzneimitteltests mit nicht registrierten Migranten durchführte. Die Versuchskaninchen waren in einem heruntergekommenen Motel untergebracht, das nach der Bloomberg-Reportage wegen des Verstoßes gegen Brandschutz- und Sicherheitsvorschriften abgerissen wurde.


      Gravierender waren die Selbstmordfälle, wegen derer gegen mehrere Pharmaunternehmen ermittelt wurde. 2004 brachte sich der 27-jährige Dan Markingson mit einem Messer tödliche Verletzungen bei, während er im Rahmen einer Arzneimittelstudie für AstraZeneca an der University of Minnesota das Psychopharmakum Seroquel (Wirkstoff: Quetiapin) einnahm. Im selben Jahr erhängte sich die 19-jährige Traci Johnson, die im klinischen Forschungszentrum des Pharmakonzerns Eli Lilly in Indianapolis an einer Testreihe mit dem Antidepressivum Cymbalta (Wirkstoff: Duloxetin) teilnahm. Und im Mai 2006 entgingen im Londoner Northwick Park Hospital sechs gesunde junge Männer, an denen man erstmals monoklonale Antikörper (TGN 1412) erprobt hatte, nur knapp dem Tod.
      Noch bekannter wurde der Fall, dessen Folgen den Pharmariesen Pfizer mehr als 13 Jahre beschäftigt haben. 1996 waren im nigerianischen Kano bei einer Versuchsreihe mit an Meningitis erkrankten Kindern elf der hundert Probanden gestorben. Angeblich wollte der Konzern damals nur beweisen, dass sein Antibiotikum Trovan den Konkurrenzprodukten überlegen sei. Der Fall ging über Jahre durch alle gerichtlichen Instanzen und endete 2009 damit, dass Pfizer insgesamt 75 Millionen Dollar Entschädigung zahlen und einen anhaltenden Imageverlust hinnehmen musste.

      Höchste Zeit für eine groß angelegte Imagekampagne, befand man beim Center for Information and Study on Clinical Research Participation (CISCRP). Das Zentrum sammelt Daten über klinische Studien und informiert darüber, was die Teilnahme an solchen Studien bedeutet. Finanziert wird es aus Geldern von Pharmafirmen, akademischen Forschungszentren und Organisationen, die Auftragsforschung betreiben.


      Um das schlechte Image der Pharmakonzerne ein wenig aufzupolieren startete das Center for Information and Study on Clinical Research Participation (CISCRP) mit finanzieller Unterstützung von Eli Lilly eine Kampagne die mit Slogans wie „Medical heroes can be found in everyday places“, „Aufklärungstagen über klinische Forschung“, „und Medical Hero“-Ansteckern für mehr Versuchsteilnehmer wirbt.

      Vor kurzem verstieg sich im Journal of the American Medical Association ein Autorenteam vom Klinischen Zentrum des National Institute of Health zu der These, im Grunde sei die Teilnahme an klinischen Tests für jeden Staatsbürger eine moralische Pflicht.

      Die klinische Forschung ist heute eine milliardenschwere Branche mit vielen Geschäftsfeldern, die es vor 25 Jahren so noch nicht gab: Firmen, die geeignete Patienten und Probanden für bestimmte Testreihen ausfindig machen, weltweit operierende PR-Agenturen, die sich auf Medizin und Gesun dheitsthemen spezialisiert haben, oder Organisationen, die für das Ausstellen von „forschungsethischen Gutachten“ bezahlt werden.
      Die wichtigste neue Teilbranche ist die kommerzielle Auftragsforschung (contract research). Die sogenannten Contract Research Organisations (CROs) verdienen ihr Geld mit der Durchführung klinischer Versuchsreihen. Die bekanntesten CROs wie Parexel, Quintiles, PPD und Covance sind inzwischen riesige Weltkonzerne. 70 Prozent aller klinischen Tests werden von solchen privaten Firmen durchgeführt.
      Aus einer Forschung, die für viele von uns mit dem „Dienst am Menschen“ verbunden war, mit selbstlosen Wissenschaftlern, Spendenkampagnen und Benefizveranstaltungen, ist eine durchtaylorisierte Branche geworden, die systematisches Outsourcing betreibt und maximale Kosteneffizienz anstrebt.
      Die Öffentlichkeit weiß erstaunlich wenig über diesen jungen Industriezweig.

      Heimlichtuerei und Skandale entdecken neuerdings auch die empirischen Sozialforscher, die das Business mit den klinischen Tests untersuchen. Sie beschäftigen sich freilich weniger mit den Schweinereien, die der eine oder andere findige Reporter aufdeckt, auch nicht mit den Vorschriften, die für solche Tests gelten. Ihr Interesse gilt eher dem Druck und den schwierigen Entscheidungen, mit denen die in der Branche Beschäftigten tagtäglich zu kämpfen haben. Das sind in erster Linie die freiberuflichen Ärzte, die Testreihen durchführen, die Koordinatoren, die diese Ärzte beaufsichtigen, und natürlich die Versuchspersonen, die die Medikamente einnehmen und dafür meist ein Honorar oder medizinische Gratisbehandlung bekommen.
      Manchmal finden die Auftragsforscher sehr schnell heraus, dass ihre Auftraggeber ungünstige Ergebnisse nicht schätzen. Wenn in einem Bericht beispielsweise steht, dass bei den Testpersonen „serious adverse events“ auftreten – so der Branchen-Code für schwere Nebenwirkungen -, kann der testende Subunternehmer durchaus den Auftrag verlieren. Eine Ärztin berichtet von einem klinischen Test, bei dem sich das Medikament als gefährlich herausstellte. Sie schrieb ihre Beobachtungen und Empfehlungen auf, die der Auftraggeber jedoch ignorierte. Er schaffte es trotzdem, die Zulassung für das Medikament zu bekommen, das später wieder vom Markt genommen werden musste. Von diesem Unternehmen, erzählt die Ärztin, bekamen sie nie wieder einen Auftrag.

      Bei Phase-1-Tests wird überprüft, ob ein Medikament sicher ist. Die meisten Phase-1-Tests werden mit gesunden Probanden durchgeführt. Bis Mitte 1970er Jahre waren das Gefängnisinsassen, heute sind es Arme, die sich für Geld zur Verfügung stellen.
      Die große Masse der Probanden bei Phase-1-Studien sind, wie man sich unschwer vorstellen kann, Arbeitslose, Migranten, Teilzeitbeschäftigte, Studenten, Haftentlassene und andere Menschen, die aus irgendwelchen Gründen keiner regelmäßigen Arbeit nachgehen.
      Manche Leute schaffen es sogar, als professionelle Versuchskaninchen ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie jahrelang von einer klinischen Studieneinrichtung zur nächsten reisen. Ein solcher Berufproband hat die Sache als "mild torture economy" bezeichnet: "milde Folter" als Lebensunterhalt.

      Dadurch, dass wir die klinische Forschung dem Markt überlassen haben, haben wir ein System geschaffen, in dem manche Ärzte mehr Geld verdienen, wenn sie ihre Patienten überreden, an Forschungsstudien mitzuwirken, statt nur ihre Krankheit behandeln zu lassen. Ein System, in dem Patienten sich verpflichten, neue Medikamente zu testen, weil sie das Geld brauchen oder keine anderen Möglichkeit haben, ihre Gesundheitsversorgung zu sichern. Ein System, in dem die Forscher finanzielle Nachteile haben, wenn sie ihren Auftraggebern erklären, dass deren Mittel riskant oder gar gefährlich sind, und in dem noch die ethische Kontrolle als profitables Gewerbe ausgeübt wird.
      Eines kommt in diesem Geschäftsmodell nicht vor: der menschliche Faktor, die Testperson.
      Der Manager eines in Osteuropa tätigen Unternehmens für klinische Studien sagt: „Wir sehen keine Patienten, wir sehen Daten.“ Er meint das nicht ironisch.

      Quelle: LE MONDE diplomatique Nr. 9366 vom 10.12.2010, Carl Elliot (verkürzt, leicht abgeändert)

      weiteres zu diesem Thema:
      focus.de/gesundheit/ratgeber/z…tenstudie_aid_106230.html
      3sat.de/nano/bstuecke/100990/index.html
      wdr.de/tv/quarks/sendungsbeitr…/0526/003_medikamente.jsp
      ariva.de/Parexel_Medikamentent…ief_fast_toedlich_t249898
      ciscrp.org/professional/store/posters_medhero.html
      ciscrp.org/downloads/CISCRP_Catalog.pdf

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