'Zweites Gehirn' - Neurogastroentereologie

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    • 'Zweites Gehirn' - Neurogastroentereologie

      Hi,
      ursprünglich hatte ich diesen Beitrag als Antwort auf Berichte von Jannis und Zaubernuss über Magen-Darm-Probleme geschrieben. Als ich gerade eine Suche mit den Stichwörtern 'Darmgehirn' bzw. 'Bauchgehirn' bzw. 'Neurogastroenterologie' abschickte erzielte ich lediglich einen einzigen Treffer, meinen eigenen Beitrag nämlich. Da die Thematik von erheblicher Bedeutung zu sein scheint, eröffne ich hiermit einen eigenen Threat.

      Neuere Forschungen kommen zu dem verblüffenden Ergebnis, dass in der (gesunden) Darmwand Kolonien von mehr als 100 Millionen Nervenzellen existieren. Wissenschaftler sprechen deshalb sogar von einem Darmgehirn oder Bauchgehirn. Die in der Sprache eingeschlossene Weisheit scheint diese Erkenntnisse der modernen Medizin bereits antizipiert zu haben. Dass Liebe durch den Magen geht, scheint nicht allein für ein 'Bratkartoffel-Verhältnis' Gültigkeit zu haben; und - schlechte Nachrichten für die Fans des vulgären Ressentiments, demzufolge das Denken die Gefühle verhunzt - in einer Entscheidung 'aus dem Bauchgefühl heraus' könnte mehr Verstand stecken, als bei manch einem in der Birne vorhanden.

      Die Entdeckung des Enterischen Nervensystem (ENS) geht meinen spärlichen Kenntnissen nach auf neurobiologische Erkenntnisse des späten 19. Jhdts. zurück. Die medizinische Fachdisziplin, die sich heute damit befasst, trägt den schönen Namen Neurogastroenterologie. Deren Forschungsstand und -schwerpunkt wird auf der Webseite biophysik.com wie folgt zusammengefasst
      Das ENS verfügt über einige erstaunliche Eigenschaften: So hat es mit rund 100 Millionen Nervenzellen alleine im Dünndarm ebenso viele wie im Rückenmark vorhanden sind; rund 90 Prozent des Informationsaustausches läuft vom Bauchgehirn zum Zentralen Nervensystem (ZNS) und nicht umgekehrt! Es sind alle Gruppen von Neurotransmittern vorhanden, die auch im Gehirn zu finden sind! Außerdem fällt auf: Auch wenn die Nervenleitungen, die vom ZNS zum ENS führen, durchtrennt werden führt das ENS seine Funktionen wie den oben erwähnten peristaltischen Reflex weiterhin korrekt durch. Diese Fähigkeit, Reflexe ohne Eingabe des Gehirns oder Rückenmarks weiter zu steuern, besteht bei keinem anderen Organ.
      Der augenblickliche Schwerpunkt der sogenannten “neurogastroenterologischen” Forschung liegt allerdings nicht in der unmittelbaren Verbindung vom ENS und der menschlichen Intuition. Untersucht werden vielmehr “funktionale Darmerkrankungen” – der Sammelbegriff dafür, wenn der Darm nicht richtig funktioniert und keiner weiß warum. Schließlich sind in Amerika ein großer Teil aller internistischen Fälle Magen und Darmbeschwerden.
      psychophysik.com/integral-blog/?p=533

      Einem Artikel der FAZ-Wissenschaftsbeilage zufolge sind Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes häufig auf einen Funktionsverlust des ENS zurückzuführen. Eine gekürzte Fassung dieses Artikels ist unter folgender URL vefügbar:
      faz.net/aktuell/wissen/medizin…ites-gehirn-11340153.html

      Gruß
      Laci
      "Tief im Herzen haß ich den Troß der Despoten und Pfaffen, Aber noch mehr das Genie, macht es gemein sich damit." (Hölderlin)

      "Nun müssen diejenigen, welche ihre Gedanken untereinander austauschen wollen, etwas voneinander verstehen; denn wie könnte denn, wenn dies nicht stattfindet, ein gegenseitiger Gedankenaustausch möglich sein?" (Aristoteles)
    • Nachfrage: Wie wirken sich Antidepressiva und Neuroleptika auf die Darmflora aus?

      Hi,
      es ist bekannt, dass z.B. Aspirin die Darmflora - sehr vorsichtig formuliert - negativ beeiflussen kann. Wie steht es in dieser Hinsicht mit den für uns relevanten Medikamenten und Wirkstoff-Gruppen? Gibt es irgendwelche gesicherten Erkenntnisse über derartige Nebenwirkungen von Antidepressiva und Neuroleptika? Wenn es (noch) keine validen Forschungsresutltate geben sollte, gibt es immerhin Anhaltspunkte oder Vermutungen in diese Richtung? Wäre schon gut zu wissen, ob man den Teufel mit dem Beelzebub austreibt, nicht wahr?
      Gruß
      Laci
      "Tief im Herzen haß ich den Troß der Despoten und Pfaffen, Aber noch mehr das Genie, macht es gemein sich damit." (Hölderlin)

      "Nun müssen diejenigen, welche ihre Gedanken untereinander austauschen wollen, etwas voneinander verstehen; denn wie könnte denn, wenn dies nicht stattfindet, ein gegenseitiger Gedankenaustausch möglich sein?" (Aristoteles)
    • @ Laci Da man noch nicht einmal etwas genaues über die Hauptwirkung und Wirkungsweise (das sind alles bloße Annahmen) von Neuroleptika und Co. weiß, wird man auch nicht besonders viel über die Nebenwirkung wissen. Derzeit zählt man eher die Toten und ordnet diese der Sowieso-Folge des Lebens zu. Klar, wenn jemand unter dem Eindruck von Neuroleptika vom Deck der Hochgarage in den Tod springt (während meines Klinikaufenthaltes zweimal geschehen) ist das ja keine unmittelbare Folge, sondern allenfalls eine mittelbare und außerdem, na klar, der wäre doch ohnehin gesprungen, also hat das mit dem tollen Medikament ü b e r h a u p t nix zu tun!

      Mich wundert angesichts dieses mageren Kenntnisstandes immer wieder, mit welcher Leich(fer)tigkeit in fremden Hirnen herumgeschraubt wird. Ob der verschreibende Psychiater das Zeug selbst fressen würde, wenn er betroffen wäre?
    • Oh, da unterschätzt du aber die Tollkühnheit des Psychiaters bei weitem, mein Lieber. Moritz hat hier im Forum definitiv und expressis verbis erklärt, er würde sich ohne das geringste Bedenken einer EKT unterziehen, wenn er depressiv wäre. Ich finde es fatal, dass Fragen, wie die nach der Auswirkung von Psychopharmaka auf die Darmflora oder auf das Träumen nicht - um im Dummdeutsch zu sprechen - kommuniziert werden, hingegen die Propaganda-Maschinerie für diese Medikamente auf vollen Touren läuft.

      Inzwischen ist es fast schon Standard, dass Manisch-Depressive mit einem Coktail von Arzneien behandelt werden, obwohl kein Arzt weiß, wie die verschiedenen Substanzen interagieren. Ein zwar kritischer, aber keineswegs 'anti-psychiatrischer' Nervenarzt hat mir unlängst auf Nachfrage erklärt, dass auf dem derzeitigen Stand der Medizin verlässlich nichts darüber ausgesagt werden kann, wie mehr als zwei Medikamente interagieren. Schon bei drei Wirkstoffen sei das nicht möglich. Dennoch - immer feste druff. Im DGBS-Forum gehört es geradezu zum guten Ton, dass die Teilnehmer in ihrer Signatur ihre Medikation mitteilen. Das geschieht so nach dem Motto: je mehr, desto doller, so als stiege das Sozialprestige mit der Anzahlgleichzeitig eingenommener Medikamente. Dass dies schlichte Dummheit ist, kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn, sonst würden sie es ja nicht tun. Erschütternd, und das meine ich genau so, wie es hier steht, erschütternd ist, dass bereits Jugendliche, gelegentlich Kinder einer pharmakologischen Kombinationstherapie unterworfen werden. Ich will mir gar nicht erst vorstellen, welche verheerenden Auswirkungen das auf Menschen hat, die sich im körperlichen Reifungsprozess befinden. Womöglich erzeugt die Psychiatrie damit ihre eigene Kundschaft....

      Moritz hat meines Wissens vor einiger Zeit genau dazu, zur Frage der Interaktion verschiedener pharmakologischer Wirkstoffe, einen Vortrag gehalten. Wäre interessant zu erfahren, was er dazu meint, da er ganz gewiss aufgrund seiner profunden naturwissenschaftlichen Kenntnisse alle diesbezüglichen Vorurteile und Irrtümer mit links aus dem Weg zu räumen vermag. Hoffe nur, dass wir dabei nicht der Satz zu lesen bekommen, dass jedes Medikament Nebenwirkungen hat.

      Gruß
      Laci
      "Tief im Herzen haß ich den Troß der Despoten und Pfaffen, Aber noch mehr das Genie, macht es gemein sich damit." (Hölderlin)

      "Nun müssen diejenigen, welche ihre Gedanken untereinander austauschen wollen, etwas voneinander verstehen; denn wie könnte denn, wenn dies nicht stattfindet, ein gegenseitiger Gedankenaustausch möglich sein?" (Aristoteles)
    • @ Laci, ich habe den Eindruck, dass wir inhaltlich ziemlich einer Meinung sind und Du wie ich ein gaaanz klitzekleines bischen skeptisch im Hinblick auf die angebotenen Therapieformen sind.

      Mein Zimmernachbar in der Klinik war so vollgestopft mit Neuroleptika, dass man von seinen Augen nur noch das Weiße sehen konnte. Dann bekam er heftigsten Durchfall und ich bat die Ärzte, dass man ihm Kohletabletten oder Perenterol gebe, damit er nicht vollends entwässert. "Mischen Sie sich mal nicht schon wieder in unser Therapiekonzept (?) ein." bekam ich zu hören. Das bekam ich auch zu hören, als ich einmal eine Patientin bewußtlos in ihrem Erbrochenen liegen sah, nachdem ich sie in eine stabile Seitenlage gebracht hatte.

      Mit dem Zimmernachbar geschah nichts. Am nächsten Tag ist er mit einem Kreislaufkollaps an der Essensausgabe zusammengebrochen ...... tolles Konzept!

      Zu EKT kann ich nichts sagen, ist mir nie angeboten worden, käme aber auch nicht für mich in Betracht. Man muss ja nicht auf jedem Weg mein Hirn entern.
    • Ein paar Antworten/Anmerkungen:

      1. Ja, bei sehr schwerer Depression würde ich selbst einer ECT zustimmen, für mich; NACHDEM ich andere Therapieformen (ohne ausreichenden Erfolg) ausprobiert hätte.
      2. Wie unglaublich stark das vegetative Nervensystem (und damit sehr stark der Gastrointestinaltrakt, aber keineswegs der alleine, da gibt es durchaus noch andere Mitspieler) mit dem zentralen Nervensystem verflochten sind, ist eigentlich kein Geheimnis und wird auch in der medizinischen (Grund-)Ausbildung überhaupt nicht verschwiegen. Es stimmt allerdings schon, dass es hier "Strömungen" innerhalb der Medizin gibt, die sozusagen verschiedene Akzente setzen. Vermutlich wird es so sein wie "immer": die "Wahrheit" liegt irgendwo in der Mitte.
      3. Es gibt ENORM viel Forschung, die genau auf die ganzheitlichen Zusammenhänge zielt - zum Beispiel das Gebiet Psychoneuroimmunologie, oder Psychoonkologie - oder, im Idealfall bei sehr gutem Ausbildungsstand - die "Psychosomatik".
      4. Die Gefahr besteht imho immer dort, wo irgendeine totalitäre Sicht der Dinge vertreten wird (völlig egal auf welcher Seite des Spektrums), die für sich verbucht, die "Lösung" zu kennen. Ernsthafte Wissenschafter sind ständig am Arbeiten, am Vergleichen, am Bewerten, Verwerfen und Bestätigen von Konzepten, die genau die hier beschriebenen Überlegungen überprüfen.
      5. Ein Problem dabei ist, dass sehr viel Forschung heute ein geradezu enormes Budget benötigt (u.a. wegen der wirklich guten und wichtigen Sicherheitsauflagen) und daß viel Forschung nur mehr unter dem Gesichtspunkt möglich ist, daß innerhalb relativ kurzer Zeit ein finanzieller Gewinn zu erwarten ist.
    • Der Patient als (wieder) zusammengesetzter Mensch - reif für die Psychiatrie

      Hi,
      angesichts dessen
      Es gibt ENORM viel Forschung, die genau auf die ganzheitlichen Zusammenhänge zielt - zum Beispiel das Gebiet Psychoneuroimmunologie, oder Psychoonkologie - oder, im Idealfall bei sehr gutem Ausbildungsstand - die "Psychosomatik".
      möcht' nach mehr als 2500 jähriger Geschichte der abendländischen Medizin die Melancholie über einen kommen. Der antiken Heilkunst war vollkommen bewusst, dass der Mensch als ganzheitliches Wesen zu betrachten sei. Die Fraktionierung von Geist, Seele und Körper, dessen Aufspaltung in disparater Funktionsteile, welche jeweils von medizinischen Teildisziplinen vergegenständlicht werden, um dann im Gegenzug gegen diese am Leitbild der mathematisch-experimentellen Naturwissenschaften organisierten Sektorwissenschaften ein bisserl Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Ethnologie et patati et patata anzustücken-, angesichts dessen ist ein Desaster zu protokollieren, das die geschönte Erfolgsgeschichte der westlichen Medizin in anderes Licht rückt. Das rassistische Ressentiment, wonach einzig das christliche Abendland imstande gewesen sein soll, Wissenschaft zu betreiben, tat bzw. tut ein Übriges: die traditionelle chinesische Medizin kennt jene Aufspaltung des Menschen nicht, weshalb sie ihn auch nicht mit viel Tamtam wieder 'ganzheitlich' restituieren muss.

      Nicht nur die medizinisch-pharmakologische Forschung ist dem Prinzip der Kapitalrentabiltät unterworfen - dass es Grundlagenforschung gibt, die davon explizit ausgenommen ist, weil sie sonst gar nicht funktionieren könnte, ist kein Gegenargument, sondern zeigt die Schranken einer auf jenes Prinzip gegründeten Produktionsweise -, in Deutschland wenigstens vollzieht sich in den letzten Jahrzehnten die sukzessive Unterwerfung des gesamten 'Gesundheitssektors' unter ein betriebswirtschaftliches Rationalitätsprinzip, was viele Mediziner tagtäglich an den Rand der Verzweiflung treibt. Besserung ist nicht in Sicht, im Gegenteil dieser Prozess wird sich fortsetzen, solange 'Fortschritt' im Rahmen der vorgegebenen sozialen Strukturen geschieht.

      Gruß
      Laci
      "Tief im Herzen haß ich den Troß der Despoten und Pfaffen, Aber noch mehr das Genie, macht es gemein sich damit." (Hölderlin)

      "Nun müssen diejenigen, welche ihre Gedanken untereinander austauschen wollen, etwas voneinander verstehen; denn wie könnte denn, wenn dies nicht stattfindet, ein gegenseitiger Gedankenaustausch möglich sein?" (Aristoteles)
    • Das ich nicht lache, Moritz, ganzheitliche Medizin findet heute weniger statt denn je. Jeder kennt nur sein Reagenzglas, vor dem er gerade hockt. Das Wissen geht heute allein in die Tiefe, nicht aber in die Breite. Die ärztlichen Disziplinen werden immer fachspezifischer. Früher reichte ein Internist und ein Chirurg aus, um das gesamte klinische Spektrum abzubilden und wenn der Chirurg im Urlaub war, dann hat der Internist nach Feierabend auch noch geschnipselt.

      Das hat Vorteile, aber auch den Nachteil, dass der betreffende Arzt nicht einmal die Bohne von der angrenzenden Fachdisziplin versteht. Ich habe mal einen Freund in eine Augenklinik gebracht, weil er fast nichts mehr sehen konnte. Der ist dann als gesund entlassen worden, weil seine Augen i.O. seien. Sehen konnte er nach wie vor nicht, es war letztlich, wie ich bereits vermutet hatte, ein neurologisches Problem. So etwas nenne ich: Schwachsinn.