Mischzustand-Zicke-Zacke Vol.I

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    • Mischzustand-Zicke-Zacke Vol.I

      Hallo. Da pmmsg darum gebeten hat: hier ein längerer Beitrag von mir. Ich musste ihn auf drei Nachrichten verteilen, da er zu lang ist.
      Um Missverständnissen vorzubeugen: der Text ist kein reiner Erlebnisbericht sondern auch sehr stark literarisiert. Das heißt aber nicht, dass Dinge darin reine Erfindung wären. Nur der Schluss ist erfunden.
      Vorsicht, er ist lang, besser rauskopieren und ausdrucken.


      Sinuskurve, lallt Fauser. Zickezacke, brüllst du.


      Vor kurzem.
      Vor kurzem muss es gewesen sein, dass dir die Sonne schien so golden.
      Vor kurzem und schon ist jede Erinnerung daran verblasst wie blaue Tinte auf
      gelbem Papier.
      Du fühltest dich wie eine geschüttelte Flasche Sekt. Deine Hände flatterten zwischen
      den Dingen, auch ohne Kaffee warst du starkhell und bärenwach.
      Wenn doch nur der Tag mehr Stunden hätte, dann wärst du jetzt vielleicht noch bären-hell und hättest alles erledigt, was es jemals zu erledigen gibt. Du hättest eine Roman-trilogie vollendet, deinen Bruder in Öl porträtiert und einen Song geschrieben, obwohl du nicht Klavier spielen kannst. Du hättest in der Küche eine Hygienemaßnahme durch-geführt, sogar unter dem Schrank und hinterher wärst du schwimmen gewesen und immer noch hättest du Zeit gehabt, deinen Wirt zu besuchen, bei dem du Georg getrof-fen hättest und dem hättest du den Song vorgetragen, bis der Schnaps dich ruhiger gemacht hätte, nur beim Würfeln wäre es dir auf einmal lästig geworden, das Flattern deiner Hände, du hättest dich nicht getraut, dem Georg vier Finger an die Wange zu legen, denn vielleicht wären sie dir ausgerutscht, mitten in seinem Gesicht. Die Zunge hätte dir ausrutschen können, vielleicht hättest du die verrückte Bäckerin eine alte Drecksfotze genannt oder deinen Bruder ein blödes Arschloch, deinen Wirt eine dumme Sau und den Georg einen Schnösel.
      Gegen jedes hätte gibt's 'ne Tablette.
      Zur ‚Harmonisierung' wie der Doktor sich auszudrücken pflegte. Du hast ihn ausgelacht und die Pillen brav geschluckt.

      Vorgestern.
      Du hast nicht genug Zeit, um alles zu erledigen. Du fängst aber wenigstens schon mal alles an. Du beginnst, die Steuererklärung auszufüllen und dir zu notieren, wem du wie viel Geld überweisen musst. Dann kaufst du ein Huhn, falls du in drei Tagen ein Huhn braten willst und kochst für gestern eine Reispfanne und isst dann den Salat von vor zwei Tagen, der dir schon zum Halse raushängt, sich aber im Kühlschrank überraschend gut gehalten hat. Du fängst an, deine Texte zu ordnen und sie alle einmal durchzulesen, um zu sehen, wo du stehst, dann machst du einen Termin beim Zahnarzt. Du denkst dir, den Burroughs heute schnell fertig zu lesen und scheiterst nach drei Seiten, du fängst an,Wäsche zu waschen, willst deine beste Freundin endlich anrufen und dann verzettelst du dich und schreibst Georg einen Brief, obwohl du Georg schon angerufen hast, um ihn zum Essen einzuladen.
      Als Georg kommt, hast du dich schon zweimal in den Daumen geschnitten, weil deine Finger gar nicht still halten wollen und Georg sagt auch gleich als er das Blut sieht, er habe gar keinen Hunger und ihr fahrt deshalb zu eurem Wirt.
      Deine Hände, so kommt es dir vor, flattern weniger, vielleicht der Blutverlust, sinnierst du, da rutscht dir der Würfelbecher aus der Hand und der Wirt fragt, was denn sei. Nichts, sagst du, gar nichts, ich bin nur ein wenig aufgekratzt; und Georg denkt, es sei seinetwegen, du willst das auch gerne glauben und steckst deine Hände in die Tasche des Kapuzenpullovers, damit sie dir nicht mehr davon flattern können.
      Königin nennen sie dich, und du lachst, weil du es gar nicht nötig hast, dass sie dich Königin nennen, weil du ja die Krone aufhast, was wissen die, wie schwer so eine Krone wiegt, denkst du und traust es dich nicht sagen.
      Später bist du vom Bier müde, aber zum Schlafen brauchst du noch ein paar Schnäpse, denkst du, denn innen fühlt sich dein Schädel so rau an, so aufgerieben, du denkst an ein Zimmer, das mit Sandpapier tapeziert ist. An ein Zimmer mit 23 Türen, morgen wirst du sie alle öffnen, denkst du und hinter einer von den vielen Türen steht Bur-roughs, steht Fauser, wird Georg auf dich warten, in Strumpfhosen mit einer Narren-kappe, und eine sanfte Brise, ein kleiner Springbrunnen oder so, was dir dein wundes Gehirn kühlen könnte.
      Auf dem Nachhauseweg beisst du die Zähne aufeinander, dass es knirscht und du bist froh, als du im Bett liegst, aber schlafen kannst du nicht, schlafen kannst du erst Stun-den später, nachdem du dir ausgemalt hast, wie das Ölporträt deines Wirts aussehen, der Song für deinen Bruder sich anhören und die Romantrilogie über Georg sich
      lesen sollte.
      In deinen Träumen ist dir alles unbekannt und doch macht dir alles noch größere Angst als du sie aus dem Leben kennst. Du stehst in einem Zimmer mit 23 Türen und alle klappern sie im Sturm.

      Gestern.
      Gestern musst du streichen, gestern ist nicht. Wo soll gestern denn sein, fragst du dich und weißt es wohl, denn gestern ist niemals ganz vorbei.
      Gestern hast du Kopfschmerzen bis nachmittags und die Träume wollen sich nur lang-sam aus dir lösen, du bleibst stumm, den ganzen Tag.
      Bei dem Gedanken an Kaffee spürst du ein Flattern in deinem Magen, ein gefangener Nachtfalter, wahrscheinlich hast du mit offenem Mund geschlafen, denkst du und hältst Ausschau nach einem Gefäß neben deinem Bett. Du musst dich ein Stück aus dem Bett herausbeugen, um den Topf mit drei alten Ravioli zu erwischen, dir wird kalt um die Schultern, in deinem Kopf setzt das zur Erblindung führende Pochen ein, es ist rot. Du siehst eine Gänsehaut auf den Unterarmen und der rechte Arm, mit dem du dich ab-stützt, will einknicken, du weißt nicht mehr so genau, du erwischst jedenfalls den Topf noch rechtzeitig und weißt nicht, ob der rote Schwall aus deinem Hals was mit deinem Blut zu tun hat. Du legst dich zurück und tastest mit der Zunge die mit einem Mal stumpf gewordenen Zähne ab, der Zahnarzttermin fällt dir ein. Ohne die Augen zu öffnen, schiebst du den Topf soweit wie möglich von deinem Bett weg und legst dir einen kühlen Unterarm auf die Stirn, du frierst, du hast entsetzliche Kopfschmerzen, du willst deine Träume vergessen, du willst Wasser trinken, du willst aufstehen und alles erledigt ha-ben. Eine Stimme in deinem Kopf sagt: Romantrilogie. Romantrilogie. Romantrilogie.
      Du schläfst ein, in deinen Träumen kennst du dich kein bisschen aus.
      Am späten Nachmittag stehst du auf und fühlst dich gleich nicht gut. Die rötliche Brühe im Topf neben deinem Bett, die angefangene Steuererklärung, auf einem Zettel stehen Unsummen, die du irgend jemandem überweisen musst, selbst dass du den Fernseher nicht angemeldet hast, bereitet dir jetzt Sorge.
      Du schleichst in der Küche auf und ab, dein Bruder hat alles Fleisch aus der Reispfanne aufgegessen, registrierst du und machst dir Toast mit Butter, trinkst Wasser aus dem Hahn, du lässt dich auf den Stuhl am Küchentisch fallen, ein Tee wäre viel zu heiß, alles was sprudelt, könnte den Falter in deinem Magen aus dem Schlaf reißen.
      Die Romantrilogie fällt dir ein, das Ölporträt und den Song vergisst du, ohne dir des-wegen Vorwürfe zu machen. Du beugst dich vor, um einen Blick auf den Schreibtisch in deinem Zimmer zu werfen, dir wird flau. Jemand könnte dir per e-mail eine schlechte Nachricht geschickt haben, dein Herz klopft noch wilder, als dir der Briefkasten einfällt, sollte jetzt das Telefon klingeln, stirbst du. Die Toastscheiben saugen den Schweiß von
      deinen Handflächen.
      Eine Stimme in deinem Kopf sagt in regelmäßigen Abständen das Wort Romantrilogie. Du hast Angst und stehst auf, um wieder ins Bett zu gehen. Da dir schwindelig ist, nimmst du dir ein nasses Geschirrtuch aus dem Kühlschrank, um es dir um Stirn und Nacken zu legen, die hast du immer auf Vorrat. Du windest dich um die Laken und manchmal quetschst du eine Träne aus deinen ausgetrockneten Augen; auch als du es dir selber machen willst, musst du es aufgeben, da du zu trocken bist.
      Dein Bruder besucht dich, als die Vorabendserien anfangen. Ihr sprecht beide nicht. Keinen können die Bilder von seinen Ängsten ablenken und du fragst ihn nicht, wo er seine Ängste heute aufbewahrt. Du starrst in das blaue Flimmern zwischen dir und der Welt, keine Zigarette will dir schmecken, du bist froh, dass Georg dich so nicht sieht.
      Spät in der Nacht schläfst du ein, mit einem schalen Geschmack im Mund und der Angst vor deinem Leben, auf deinen Wangen jucken die wenigen getrockneten Tränen, du versuchst noch einmal, es dir selber zu machen und schläfst dabei ein. Als du kurz vor Mitternacht erwachst, ist das Kissen feucht von deiner Spucke, du drehst dich um und sabberst die andere Seite voll. Romantrilogie, sagt Burroughs, der sich auf deine Brust gesetzt hat, so dass du dich nicht mehr rühren kannst, Romantrilogie.

      [...]
      :banghead: Glücklich ist, wer vergisst, dass er noch zu retten ist! :devil:
    • Mischzustand-Zicke-Zacke Vol.II

      Heute.
      Heute ist ein Tag, wie du ihn verfluchen würdest, wenn du die Kraft dazu hättest. Du weißt, dass heute ewig währt. Selbst wenn schon mehr als zwei Drittel vorbei sein werden, währt heute immer noch ewig und geht niemals vorbei. Heute.

      Du wachst viel zu früh auf und eine Stimme in deinem Kopf hat schon 23mal Roman-trilogie gesagt. Das kannst du nicht abstellen und deshalb drehst du dich um und ver-suchst, die Stimme zu übertönen. Du versuchst es mit polizeiliche Vorladung, Über-weisung an den Vermieter und Zahnarzttermin. Nichts hilft. Dafür kannst du jetzt die anderen Stimmen auch nicht mehr abstellen. Du lässt die Stimmen reden und tust so, als machten sie dir nichts aus. Das nimmst du dir nicht einmal selber ab. Du quälst dich in den Schlaf, indem du an Georg denkst. In deinen Träumen taucht kein Georg auf. Romantrilogie krächzt Burroughs, Romantrilogie lallt Fauser, Romantrilogie lallt Fauser. Romantrilogie lallt Fauser und bestellt noch ein Bier, Romantrilogie lallt Fauser und be-stellt einen Schnaps, Romantrilogie lallt Fauser und kotz in dein Hirn.
      Du lässt dich auf das Abenteuer ein, erwachst und stehst auf. Dein Antrieb reicht bis zur Zimmermitte, dann versagen deine Knie, du lehnst dich gegen die Wand. Romantrilogie, sagt eine Stimme in deinem Kopf, im Hintergrund plappern der Vermieter, der Zahnarzt und die Polizei. Du schaffst es bis zur Tür, da fällt dir ein Wort ein: Kaffee. Der Kaffee hält dich am Leben, bis du das Tablett mit deinem Frühstück vor das Bett gestellt hast, du ziehst alle Vorhänge zu und trinkst Kaffee, heiß mit viel Milch und Zucker, warm und dick und süß, denkst du. Romantrilogie, unterbricht dich die Stimme in deinem Kopf. Du blätterst im Spiegel und entdeckst keinen interessanten Artikel, den du noch nicht kennst. Du legst vier Finger auf den Burroughs und ziehst sie wieder zurück, nicht ohne ein schlechtes Gewissen. Romantrilogie brüllt die Stimme in deinem Kopf und du trinkst die Tasse aus, schenkst dir eine neue ein, weinst, trocknest dein Gesicht in den Kissen und machst es dir, da du schon die passende Haltung dazu eingenommen hast, selber. 23 halbe Höhepunkte geben keinen ganzen. Romantrilogie, wispert es zwischen deinen Ohren, wo du versuchst, dir das Wimmern einer Sechzehnjährigen, die ausgepeitscht werden soll, vorzustellen, und auch die Polizei meldet sich wieder drängender zu Wort. Du schwitzt und kämpfst dich frei, mit einem Fuß wirfst du die Kaffeetasse um. Der Vor-mittag ist keine Zeit, du weißt nicht, was du anziehen sollst, es ist kühl geworden über Nacht und die Sonne scheint nicht mehr.
      Du lungerst an deinem Arbeitsplatz herum, dein Bruder schläft noch, genau genommen weißt du gar nicht, ob er in seinem Zimmer ist; du nimmst es besser an, damit du nicht so ganz und gar einsam bist. Du öffnest alle Dateien und schließt sie wieder. ROMANTRILOGIE tippst du und formatierst die Buchstaben fett in Schriftgrad 30, dann löschst du sie wieder. Du schaust in deinem Posteingang nach neuen e-mails, es hat dir niemand eine geschrieben, bis auf dein Agent und der scheint verärgert. Du sollst end-lich aufhören mit dieser Befindlichkeitsscheiße über kleine Mädchen, kein Mensch wolle das lesen, schreibt er. Du wärst auch gerne verärgert, jedoch bist du nur traurig und traust dich nicht, Georg anzurufen. Du kannst dir nicht vorstellen, dass er nicht auch traurig ist. Mit Georg zusammen traurig zu sein, wäre eine Katastrophe.
      Über den Flur schleicht dein Bruder und versteckt sich im Badezimmer. Er hat Angst vor dir und du bist froh, dass er nicht hereinschaut, weil du Angst vor ihm hast, die du nicht zeigen willst und du willst seine Angst auch nicht sehen. Er wäscht sich die Hände (in denen er vermutlich einen verkokelten Löffel hält) und verschwindet lautlos wieder in seinem Zimmer, er behandelt dich wie eine Außerirdische, dabei ist er ja wohl der Außerirdische. Bei Gelegenheit wirst du ihm das vorwerfen. Jetzt stehst du auf und schließt deine Zimmertür, damit ihr euch nicht begegnen müsst, wenn er in die Küche geht, um sich Honigbrötchen zu schmieren. Sicher arbeitet er hinter seiner verschlos-senen Tür an einer Romantrilogie.
      Du gehst in den manisch-depressiven chatroom und gerätst sofort mit einem Maniker aneinander, der dich ein Weichei schimpft, weil du dich für Antidepressiva interessierst.
      Du beleidigst ihn aufs Gröbste, jetzt halten alle dich für die Manikerin; aufgebracht wie du bist, kannst du niemandem begreiflich machen, dass du depressiv bist. Dein Bruder muss den Stecker des Modems herausgezogen haben, denn dein PC teilt dir mit, dass die Verbindung getrennt wurde. Auch gut, denkst du und hörst die Stimme zum ein-tausendsten Mal das Wort Romantrilogie aussprechen.
      Du beginnst einen Brief an Georg. Dann ersetzt du seinen Namen durch den Namen deines Wirts. Du löschst den Brief und schreibst einen ganz neuen an die Polizei, den du erst einmal abspeicherst. Vielleicht, denkst du, kannst du ihn in der Romantrilogie ver-wenden. Aus dem Zimmer deines Bruders hörst du Tastenklappern. Du schreibst deinem Bruder einen Brief, in dem du ihn dazu aufforderst, endlich die Küche und das Bad sauber zu machen, ferner weniger Drogen zu nehmen und dich wie ein mensch-liches Wesen zu behandeln. Du liest dir den Brief noch einmal durch und fängst an zu weinen, weil du ihn selbst nicht ganz verstehst. Dann schiebst du ihn deinem Bruder unter der Tür durch. Wehe, er verwendet ihn in seiner Romantrilogie!
      Heute vergeht nicht und dauert, wie vorausgesagt, ewig.

      [...]
      :banghead: Glücklich ist, wer vergisst, dass er noch zu retten ist! :devil:
    • Mischzustand-Zicke-Zacke Vol. III

      Die Vorabendserien fallen aus, weil ein Fußballspiel übertragen werden muss. Du gehst noch einmal in den manisch-depressiven chatroom, wo man besorgt deinen Zustand diskutiert. Du gehst wieder raus, ohne dich zu Wort zu melden und hörst ein halbes Lied von Tom Waits, bis es dir auf die Nerven geht. Tom Waits hat ganze Romantrilogien in einen einzigen Song gepackt.
      Du gehst in die Küche, entdeckst Schimmel in der fleischlosen Reispfanne und legst einen Topfdeckel drauf. Im Kühlschrank findest du Wurst, aber auf dem Tisch kein Brot und dein Bruder hat alle Milch ausgetrunken. Du willst ihn zur Rede stellen, aber er ist gar nicht in seinem Zimmer. Auf dem Boden, dein Brief liegt da unangetastet, du hebst ihn auf und wirfst ihn auf dem Weg zum Supermarkt in den Altpapiercontainer. Du kaufst Milch, Frühlingsrollen aus der Tiefkühltruhe und Würstchen im Glas. Du stehst eine Weile vor dem Saftregal, kannst dich aber nicht entscheiden, weil es dir so logisch vorkommt, dass drei Sachen in deinem Einkaufswagen liegen. Das wären Überschriften, denkst du: ‚H-Milch', ‚Frühlingsrollen' und ‚Würstchen im Glas'. Als Titel der Trilogie könntest du den Preis nehmen, den dir die Kassiererin gleich mitteilt. Gab es aber schon mal. Außerdem hast du Brot vergessen - sollst du jetzt die Würstchen da lassen oder eine Tetralogie schreiben?
      Das sind also deine Gedanken, denkst du betrübt.
      Du schaust auf und siehst die Welt zerlegt in 23 Teile. Da ist es: das Kaleidoskop im Kopf, das du mehr fürchtest, als alle Hättes zusammengenommen.
      Du kannst der Kassiererin nicht in die Augen sehen. Du hast Angst, sie könne dir anseh-en, dass du an einer Romantrilogie scheiterst. Du hast Angst, sie könne dir ansehen, dass du diese Angst hast. Die 21 anderen Ängste, die jetzt plötzlich durch die 21 anderen Türen in deinen Kopf treten, wer hat die bloß aufgemacht, fragst du dich und drückst der Kassiererin einen Fünfer in die Hand.
      Du blickst dich um, polizeiliche Vorladung, denkt es in deinem Kopf. Überweisung an den Vermieter, Telefonat mit den Eltern, Überweisung an die Telekom. Überweisung an die Stadtwerke, Termin beim Arbeitsamt, Romantrilogie. Termin beim Sozialamt, Bibliothek, Zahnarzttermin. Deine beste Freundin anrufen, Wahnsinn Einhalt gebieten, Würth-Literaturpreis. Georg um Massage bitten, Agenten hinhalten, Hausmeister wegen Wasserschaden aufspüren. Import-Export-Manuel wegen PC fragen, Milch nicht verges-sen, keine Angst haben, weniger Alkohol trinken.
      Du kommst nach Hause, dein Bruder hat den ganzen Kühlschrank mit Milchpaketen blockiert. Du setzt dich an den Küchentisch und schweigst, während er den Backofen auf und zu klappt, um das Überbacken eines Blumenkohls zu kontrollieren. Du kannst nicht plaudern, er fragt dich nicht. Du suchst seine Pupillen und findest sie nicht zwischen seinen fast geschlossenen Lidern. Sehr geschickt, denkst du, wie er sie zukneift, um dir den Einblick zu verwehren. Du schlägst die Augen nieder.
      Er sagt, wie sehr er dich dafür bewundere, dass du so ganz ohne Drogen dermaßen ausgeglichen sein könnest. Du verstehst: Wie du nur zufrieden sein kannst mit deinem beschissen stumpfen Leben.
      Du gehst in dein Zimmer und schneidest dir mit einer Rasierklinge 23 Kerben in den Oberarm, für jede Angst, für jede Romantrilogie eine und dann willst du in die Küche gehen, um deinem Bruder zu zeigen, wie frisch und schön das Blut über deinen Unter-arm rinnt, aber dein Bruder liegt längst auf seinem Bett und schnarcht; wenn du ihm den Fernseher ausmachst, wacht er auf und sieht dich vorwurfsvoll an - schließlich hat er eben erst eine Romantrilogie vollendet.
      Du drückst ein Blatt Papier auf die frischen Wunden, faltest es zusammen und steckst es in einen Umschlag. Georg, schreibst du auf den Umschlag, natürlich mit Blut, denn Georg ist ein Schauspieler.
      Du nimmst den Blumenkohl deines Bruders aus dem Ofen und schiebst deine Frühlings-rollen hinein. Du trinkst einen Liter Kakao, bis du dich warm und voll anfühlst, dann legst du dich ins Bett, aber lesen kannst du nicht, es ist schon zu dunkel und die Ängste sind zu zahlreich. Du könntest Georg anrufen, wenn du wüsstest, was du ihm sagen sollst. Ich habe solche Angst, sagst du probeweise in die Dunkelheit, ich habe solche Angst, Georg. Dann bist du still und lauschst auf die Geräusche deines Bruders, der in der Küche seinen Blumenkohl zerteilt und du hältst den Atem an und wünschst dir, er möge kommen und dich trösten. Du hältst den Atem an und machst keinen Mucks, du schließt die Augen, als du den Türspalt sich verdunkeln siehst, du horchst, wie dein Bruder, noch leiser jetzt, in die Küche zurückschleicht, den Herd abschaltet, mit dem Blumenkohl in sein Zimmer verschwindet und die Tür schließt.
      Und du liegst da in der Ewigkeit angekommen und öffnest den Mund zu einem lautlosen Aufjaulen, schließt die Augen für eine trockene Träne und schlägst die Fäuste gegen den Kopf, weil du glaubst, das halte die 23 Ängste auf, die auf einem Möbiusband durch dein Hirn rasen, weil du glaubst, das Kaleidoskop in deinem Kopf löse sich auf und setze sich neu zusammen und plötzlich gebe es da wieder nur eine Wahrheit, wie es noch vor kurzem war, du kannst dich kaum erinnern, dein Verstand zersplittert dir bei vollem Bewusstsein und du hast nicht einmal ein Taschentuch bei dir, um die Einzelteile darin zu sammeln und sie aufzubewahren, bis dir jemand dabei helfen will, sie wieder zusammenzusetzen.
      Du stehst auf und stellst eine Abschiedsrede in den manisch-depressiven chatroom. Sie antworten dir, deine Uneinsichtigkeit gegenüber deiner Krankheit schockiere sie; sie wollen nichts mehr mit dir zu tun haben.
      Du rufst Georg an und beschimpfst ihn, weil er euer Kommunikationsproblem nicht wahrhaben will, als Beweis dafür führst du an, er habe dich ansonsten längst angerufen. Georg sagt, er sei soeben im Begriff gewesen, genau das zu tun, aber du seiest ihm zuvorgekommen. Er faselt etwas von Gedankenübertragung.
      Du ziehst dich an, um mitten in der Nacht deinen Wirt aufzusuchen. Du hörst, wie dein Bruder in seinem Zimmer den Atem anhält, während du Schuhe anziehst. Nur dein Wirt kann dir jetzt noch helfen. Dein Wirt hat Zeit für dich und Alkohol. Du betrinkst dich, so schnell es geht, dein Wirt hilft nach mit Kalaschnikows. Du erzählst von den Tabletten, die du seit wenigen Tagen einnimmst; zur Harmonisierung, betonst du und grinst schief. Quatsch, Harmonisierung, sagt dein Wirt erbost, was du brauchst, ist ein Stecher,
      das ist alles.
      Na, wenn das alles ist, denkst du und schüttest dir den nächsten Kalaschnikow in den Hemdkragen. Dann kotzt du deinem Wirt vor den Tresen und machst dich aus dem Staub. Du klingelst bei Georg, aber er macht nicht auf, deshalb wirfst du ihm einen Zettel in den Briefkasten, den du selber nicht lesen kannst, als er ihn dir übermorgen zeigt.

      Morgen.
      Morgen ist wie gestern.

      Übermorgen.
      Und übermorgen wie heute. Georg zeigt dir einen Zettel von vorgestern, den du geschrieben hast und jetzt nicht mehr entziffern kannst.

      Tage später.
      Tage später beschwerst du dich bei der Polizei, die du mit dem Arzt verwechselst, dass es im Hausflur dauernd nach Eierkuchen rieche und über deine Träume aus Scherben. Die Polizei lacht dich aus und sagt: ‚Ja, wissen Sie, als Schriftstellerin haben Sie halt auch viel Phantasie.'
      Dir kommt wieder diese vermaledeite Romantrilogie in den Sinn und du fällst geradewegs aus dem Fenster; das stand offen, so gibt es keine Scherben.
      :banghead: Glücklich ist, wer vergisst, dass er noch zu retten ist! :devil:
    • RE: Mischzustand-Zicke-Zacke Vol.I

      Original von Her Majesty
      Um Missverständnissen vorzubeugen: der Text ist kein reiner Erlebnisbericht sondern auch sehr stark literarisiert. Das heißt aber nicht, dass Dinge darin reine Erfindung wären. Nur der Schluss ist erfunden.
      ... Romantrilogie.

      [...]


      @Mayesty: in einem älteren Beitrag - es ging um Konzentrationsschwierigkeiten von uns MDlerInnen - hast mal angedeutet, dass Literatur Dein Beruf is??!!

      ?(

      Liest sich ja echt so an... :D

      Meine ehrliche Bewunderung ist Dir zuteil, höchste Hochachtung allerhöchstens!!! :))
      (bin ja auch - auf der theoretischen Seite im Literaturzirkus beheimatet... 8) )

      Schick herzliche Grüße und hoffe auf baldiges weiteres "Material"... :P
      Hexal
      ... Bi(polar... und net nur des!!) :scheinheilig: