Hallo,
noch etwas aus meiner derzeitigen erneuten Begleit-Lektüre (Vorsicht lang):
(Zitat Anfang)
Zehn Thesen zum Verständnis affektiver Psychosen
(1) Wer manisch-depressiv wird, schöpft die Möglichkeiten, die wir alle haben, radikal aus; er reagiert also nicht fremdartig, sondern zutiefst menschlich. An sich oder anderen zweifeln zu können, das gehört zum Wesen des Menschen und schließt das Risiko zu verzweifeln mit ein.
(2) Manie und Depression sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Depression erscheint wie eine nach innen gekehrte Aggression. Die Manie wie eine nach außen gekehrte Depresseion in bunter Verkleidung. Zu den Gemeinsamkeiten beider Phasen gehören häufig unterentwickelte eigene innere Maßstäbe und eine veränderte Zeitwahrnehmung, Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit. Beide Phasen können sich in einer Art Wellenbewegung gegenseitig bedingen und verstärken: Wer eine Manie voll auskostet, kann sich und seine Angehörigen dabei in eine so umfassende Erschöpfung bringen, dass die Depression wie von selbst nachfolgt. Und eine Depression kann so tief und uferlos empfunden werden, dass als Weg nach draußen nur die Flucht nach vorne bleibt. Die Depression erscheint als Erschöpfung nach der Manie, die Manie als verzweifelte Flucht nach vorne.
(3) Depression ist nicht gleich Trauer. Wer wirklich trauert und dabei Halt findet, braucht nicht depressiv zu werden. Wer depressiv wird, ist verzweifelt traurig. Er trauert, versucht zugleich, der Trauer zu entkommen und flieht in eine Leere, in eine Distanz zu sich selbst, und nährt so eigene Verzweifkung, je größer der Abstand ist. Manie ist nicht gleich Glück.Wer wirklich Glück hat, wem das Leben glückt, der braucht nicht manisch zu werden. Wer manisch wird, ist verzweifelt glücklich. Er sucht das Glück, wo er es nie finden kann, weit weg von sich selbst. Die eigene Anstrengung geht dabei so sehr über alle Kräfte, dass die Verzweiflung immer größer wird.
(4) Depressionen und Manien sind Ausdruck eines unzureichenden Selbstwertgefühls, das durch zusätzliche Kränkungen verunsichert worden ist. Die Empfindsamkeit für Kränkungen kann durch Vorerfahrungen und im Zusammenhang mit diesen auch durch Veränderungen im Hirnstoffwechsel erhöht sein. Die Depression führt in einen Teufelskreis von Selbstentwertung. Aber auch im Hochgefühl der Manie wird das Selbstwertgefühl nicht wirklich genährt; die Abwertung geschieht verzögert und vermittelt durch die negativen Reaktionen der Umgebung und durch die unvermeidliche körperliche Erschöpfung.
(5) Depressive Menschen haben die herrschenden sozialen Normen meist tief verinnerlicht. Das Über-Ich erdrückt das Ich. Manische Menschen stellen diese Normen manchmal in provozierender Weise in Frage, meist jedoch ohne sie wirklich aufgeben zu können. Das Über-Ich scheint außer Kraft gesetzt, doch das Ich kann den Raum nicht füllen.
(6) Lange andauernde emotionale Belastungen können bestimmte neuronale Verbindungen bahnen und andere vernachlässigen. Sie hinterlassen im Gehirn also Spuren, die so tief sein können, dass sie ähnlich einer festhängenden Plattenspielernadel nicht ohne weiteres verlassen werden können. In diesem Zusammenhang spielen auch frühere Erfahrungen mit Stress eine große Rolle. Spätere Stressoren werden unter Umständen sensibler wahrgenommen als zuvor und die Spur wird tiefer. Negative Lebenserfahrungen können biologische Narben hinterlassen. Der Hirnstoffwechsel wird so beeinflusst, dass er auf spätere Ereignisse sensibler als gewöhnlich reagiert. Diese Sensibilisierung kann man auch analog psychologischen Konzepten als 'biologisch gelernte Hilflosigkéit' verstehen.
(7) Beide Zustände - Manie und Depression - bedeuten nicht nur Störung, sondern zugleich auch - vorübergehend und unzureichend - eine Stabilisierung des inneren emotionalen Gleichgewichts. Die Manie entlastet, indem sie Angst abzuwehren hilft, allerdings um einen hohen Preis, weil die Abwehr auf Dauer so nicht gelingen kann. Die Depression schützt, indem sie Verzweiflung bindet und der Umsetzung von Selbsttötungsabsichten eine innere Lähmung entgegenetzt. Die innere Vorwegnahme aller Schlechtigkeiten der Welt erweckt zumindest den Anschein von Souveränität.
(8 ) Beide Zustände bedeuten für Angehörige Bindung und Entfernung, Bestätigung und Verletzung. Angehörige sind selbst einer 'Achterbahn' der Gefühle ausgesetzt.
(9) Bipolare Störungen werden durch eine vielfache Eigendynamik verstärkt: auf somatischer Ebene durch eine möglicherweise zunehmende Vulnerabilität, auf der intrapsychischen Ebene zum Beispiel durch depressive Denkmuster und Selbstentwertungstendenzen bzw. durch die agitierende Ahnung der Vergeblichkeit der manischen 'Befreiung', auf sozialer Ebene durch Stigmatisierung und allzu festgelegte 'Rollenerwarungen', auf familiärer Ebene etwa durch wechselseitige Kränkungen.
(10) Nicht das Ende der Depression ist das wichtigste Ziel, es kommt ohnehin, weil niemand auf Dauer depressiv sein kann. Wichtig ist, den Weg durch die Depression zu begleiten und die Zeit der Depression zu nutzen, um so viel über sich zu erfahren, dass neue Depressionen unnötig werden. Auch das Ende der Manie ist kein unbedingtes Ziel, es kommt ohnehin, weil niemand auf Dauer manisch sein kann. Bei guter Begleitung und Nachsorge ist in sechs Wochen Manie mehr zu erfahren als in einem halben Jahr Psychotherapie. Nicht ob jemand nach der Manie landet, ist die Frage, sondern wie er es tut.
(Zitat Ende)
Quelle: Thomas Bock / Andreas Koesler
'Bipolare Störungen - Manie und Depression
verstehen und behandeln'
Psychiatrie-Verlag Bonn, November 2005
Persönliche Bemerkung: Als Betroffener kann ich den Autoren nur hohen Respekt zollen, solche Behandler machen mir Mut.
Gruß an alle
Peter [Blockierte Grafik: http://www.xrtheme.com/content/emoticons/Kids/02.gif]
aka Pierrot le Fou
aka Pedro el Loco
aka Peter the Maniac
noch etwas aus meiner derzeitigen erneuten Begleit-Lektüre (Vorsicht lang):
(Zitat Anfang)
Zehn Thesen zum Verständnis affektiver Psychosen
(1) Wer manisch-depressiv wird, schöpft die Möglichkeiten, die wir alle haben, radikal aus; er reagiert also nicht fremdartig, sondern zutiefst menschlich. An sich oder anderen zweifeln zu können, das gehört zum Wesen des Menschen und schließt das Risiko zu verzweifeln mit ein.
(2) Manie und Depression sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Depression erscheint wie eine nach innen gekehrte Aggression. Die Manie wie eine nach außen gekehrte Depresseion in bunter Verkleidung. Zu den Gemeinsamkeiten beider Phasen gehören häufig unterentwickelte eigene innere Maßstäbe und eine veränderte Zeitwahrnehmung, Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit. Beide Phasen können sich in einer Art Wellenbewegung gegenseitig bedingen und verstärken: Wer eine Manie voll auskostet, kann sich und seine Angehörigen dabei in eine so umfassende Erschöpfung bringen, dass die Depression wie von selbst nachfolgt. Und eine Depression kann so tief und uferlos empfunden werden, dass als Weg nach draußen nur die Flucht nach vorne bleibt. Die Depression erscheint als Erschöpfung nach der Manie, die Manie als verzweifelte Flucht nach vorne.
(3) Depression ist nicht gleich Trauer. Wer wirklich trauert und dabei Halt findet, braucht nicht depressiv zu werden. Wer depressiv wird, ist verzweifelt traurig. Er trauert, versucht zugleich, der Trauer zu entkommen und flieht in eine Leere, in eine Distanz zu sich selbst, und nährt so eigene Verzweifkung, je größer der Abstand ist. Manie ist nicht gleich Glück.Wer wirklich Glück hat, wem das Leben glückt, der braucht nicht manisch zu werden. Wer manisch wird, ist verzweifelt glücklich. Er sucht das Glück, wo er es nie finden kann, weit weg von sich selbst. Die eigene Anstrengung geht dabei so sehr über alle Kräfte, dass die Verzweiflung immer größer wird.
(4) Depressionen und Manien sind Ausdruck eines unzureichenden Selbstwertgefühls, das durch zusätzliche Kränkungen verunsichert worden ist. Die Empfindsamkeit für Kränkungen kann durch Vorerfahrungen und im Zusammenhang mit diesen auch durch Veränderungen im Hirnstoffwechsel erhöht sein. Die Depression führt in einen Teufelskreis von Selbstentwertung. Aber auch im Hochgefühl der Manie wird das Selbstwertgefühl nicht wirklich genährt; die Abwertung geschieht verzögert und vermittelt durch die negativen Reaktionen der Umgebung und durch die unvermeidliche körperliche Erschöpfung.
(5) Depressive Menschen haben die herrschenden sozialen Normen meist tief verinnerlicht. Das Über-Ich erdrückt das Ich. Manische Menschen stellen diese Normen manchmal in provozierender Weise in Frage, meist jedoch ohne sie wirklich aufgeben zu können. Das Über-Ich scheint außer Kraft gesetzt, doch das Ich kann den Raum nicht füllen.
(6) Lange andauernde emotionale Belastungen können bestimmte neuronale Verbindungen bahnen und andere vernachlässigen. Sie hinterlassen im Gehirn also Spuren, die so tief sein können, dass sie ähnlich einer festhängenden Plattenspielernadel nicht ohne weiteres verlassen werden können. In diesem Zusammenhang spielen auch frühere Erfahrungen mit Stress eine große Rolle. Spätere Stressoren werden unter Umständen sensibler wahrgenommen als zuvor und die Spur wird tiefer. Negative Lebenserfahrungen können biologische Narben hinterlassen. Der Hirnstoffwechsel wird so beeinflusst, dass er auf spätere Ereignisse sensibler als gewöhnlich reagiert. Diese Sensibilisierung kann man auch analog psychologischen Konzepten als 'biologisch gelernte Hilflosigkéit' verstehen.
(7) Beide Zustände - Manie und Depression - bedeuten nicht nur Störung, sondern zugleich auch - vorübergehend und unzureichend - eine Stabilisierung des inneren emotionalen Gleichgewichts. Die Manie entlastet, indem sie Angst abzuwehren hilft, allerdings um einen hohen Preis, weil die Abwehr auf Dauer so nicht gelingen kann. Die Depression schützt, indem sie Verzweiflung bindet und der Umsetzung von Selbsttötungsabsichten eine innere Lähmung entgegenetzt. Die innere Vorwegnahme aller Schlechtigkeiten der Welt erweckt zumindest den Anschein von Souveränität.
(8 ) Beide Zustände bedeuten für Angehörige Bindung und Entfernung, Bestätigung und Verletzung. Angehörige sind selbst einer 'Achterbahn' der Gefühle ausgesetzt.
(9) Bipolare Störungen werden durch eine vielfache Eigendynamik verstärkt: auf somatischer Ebene durch eine möglicherweise zunehmende Vulnerabilität, auf der intrapsychischen Ebene zum Beispiel durch depressive Denkmuster und Selbstentwertungstendenzen bzw. durch die agitierende Ahnung der Vergeblichkeit der manischen 'Befreiung', auf sozialer Ebene durch Stigmatisierung und allzu festgelegte 'Rollenerwarungen', auf familiärer Ebene etwa durch wechselseitige Kränkungen.
(10) Nicht das Ende der Depression ist das wichtigste Ziel, es kommt ohnehin, weil niemand auf Dauer depressiv sein kann. Wichtig ist, den Weg durch die Depression zu begleiten und die Zeit der Depression zu nutzen, um so viel über sich zu erfahren, dass neue Depressionen unnötig werden. Auch das Ende der Manie ist kein unbedingtes Ziel, es kommt ohnehin, weil niemand auf Dauer manisch sein kann. Bei guter Begleitung und Nachsorge ist in sechs Wochen Manie mehr zu erfahren als in einem halben Jahr Psychotherapie. Nicht ob jemand nach der Manie landet, ist die Frage, sondern wie er es tut.
(Zitat Ende)
Quelle: Thomas Bock / Andreas Koesler
'Bipolare Störungen - Manie und Depression
verstehen und behandeln'
Psychiatrie-Verlag Bonn, November 2005
Persönliche Bemerkung: Als Betroffener kann ich den Autoren nur hohen Respekt zollen, solche Behandler machen mir Mut.
Gruß an alle
Peter [Blockierte Grafik: http://www.xrtheme.com/content/emoticons/Kids/02.gif]
aka Pierrot le Fou
aka Pedro el Loco
aka Peter the Maniac
You'll never gonna change anything!
(John Rambo in Rambo IV)
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