Bericht vom ISBD Kongreß in Edinburgh, 2-4 August 2006

Der zweite Kongreß der ISBD (International Society of Bipolar Disorders)
stand ganz unter dem Eindruck eines beginnenden Umdenkens in der Psychiatrie,
das fast alle Bereiche betrifft.

Neue Erkenntnisse aus Genetik, Neurobiologie und bildgebenden Verfahren (Neuroimaging)
zwingen uns, die Kategorien, in denen wir bisher gedacht haben gründlich zu überdenken.

So wird immer mehr klar, daß es „die Bipolare Erkrankung“ genausowenig gibt wie „die Schizophrenie“.
Vielmehr lernen wir jetzt durch neue Forschungsergebnisse, daß wir viel mehr auf einzelne Symptome,
die bei verschiedenen Erkrankungen vorkommen, schauen müssen.

Wahrscheinlich weiß fast jeder, der mit psychiatrischen Patienten klinisch gearbeitet hat, schon ohne irgendeinen
wissenschaftlichen Hintergrund, daß sich nach dem bisherigen Diagnostischen Schema, egal ob ICD-10
oder DSM-IV, viele Patienten nicht eindeutig irgendwo zuordnen lassen, und schon gar nicht während des
gesamten Verlaufs der Erkrankung.

Dies führt oft dazu, daß derselbe Patient innerhalb von Jahren viele verschiedene Diagnosen bekommt
– was für alle natürlich sehr verwirrend ist.
Oder aber Patienten wurden über viele Jahre unter einer Diagnose behandelt und geführt,
nur weil diese anfangs einmal gegeben wurde, auch wenn sie später nicht mehr zutrifft.

Der bisherige Zugang zu dem Problem- nämlich Ärzte, die sich „offensichtlich selbst nicht auskennen“ und daher
die verschiedensten oder falsche Diagnosen geben – ist nicht nur wenig höflich, sondern nach allem
was wir heute wissen auch falsch.

Es sind nämlich die Diagnostischen Leitlinien und Kategorien, die dringend überarbeitet werden müssen.

Was führt nun aber zu diesen Ansichten?

Insbesondere sind es neue Ergebnisse aus der genetischen Forschung, die zeigen, daß es
sehr große Gemeinsamkeiten und Überlappungen bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen gibt.

Dies äußert sich klinisch auch deutlich darin, daß eine psychiatrische Krankheit selten alleine kommt.

  • bipolare Patienten haben sehr oft auch Angststörungen, Panikattacken, Sucht und Zwänge.
  • Schizophrene Patienten haben sehr häufig auch Zwänge, Sucht, Angststörungen und Panikattacken….
  • in Familien, wo es bipolare Patienten gibt, ist auch das Risiko für andere psychische Krankheiten erhöht und vice versa.

Aus der Genetik wissen wir heute

  1. Es gibt viele Gene, die ein gemeinsamer Risikofaktor für Schizophrenie und für BP sind
  2. Manche Gene finden sich aber nur als Risikofaktor für BP, manche nur für Schizophrenie.
  3. Einzelne Gene stehen in Zusammenhang mit speziellen Symptomen
  • zB NRG1 das Gen Neuregulin wurde ursprünglich als heißer Kandidat für einen Zusammenhang in der Entstehung von Schizophrenie diskutiert. Es zeigte sich auch tatsächlich, daß eine spezielle Veränderung im Gen bei Schizophrenen wesentlich häufiger war als bei psychisch Gesunden. Heute weiß man aber, daß das Gen auch eine größere Rolle bei BP spielt, und zwar nicht bei BP insgesamt, sondern für eine spezielle Verlaufsform bzw ein spezielles Symptom: nämlich ein deutlicher Zusammenhang mit ganz speziellen psychotischen Symptomen, die nicht zur Grundstimmung passen (in der Fachsprache heißt das „parathym“). Hier besteht er größte Zusammenhang. NRG scheint also ein Gen zu sein, daß sowohl bei Schizphrenie, als auch bei BP eine Rolle in der Entstehung von psychotischen Symptomen eine Rolle spielt.
  • zB DAOA das DAOA Gen zeigt einen Zusammenhang mit BP. Aber es steht auch in Zusammenhang mit manischen und depressiven Episoden bei Schizophrenen Patienten. Es könnte sich also bei DAOA um ein Gen handeln, daß für die Gefühls/Stimmungsregulation eine große Rolle spielt – egal ob bei BP oder bei Schizophrenie.
  • in ähnlicher Art werden jetzt immer mehr Gene gefunden, die ein Rolle in der Entstehung von verschiedensten Symptomen bei verschiendensten psychiatrischen Erkankungen spielen.

Es entsteht also insgesamt der Eindruck, daß es in Zukunft nötig werden könnte, nicht mehr von einer
BP (oder anderen psychischen Erkrankungen) zu sprechen, als ob dies eine bestimmte und genau
umrissene Erkrankung ist.
Vielmehr schaut es vom jetzigen Zeitpunkt so aus, als ob es eine Unzahl verschiedener Faktoren gibt,
die zu sehr unterschiedlicher Ausprägung der verschiedenen Krankheitsbilder führen und
auch fließende Übergänge zwischen den bisher gültigen Kategorien erklären und möglich machen.
Es hängt dann nach dieser Sicht eben davon ab, welchen „individuellen Cocktail“ an genetischen Faktoren
(und epigenetischen und Umweltfaktoren) man hat, wie und ob sich eine Erkrankung manifestiert.
So könnte man „hauptsächlich eine Schizophrenie“ haben, aber eben auch ein „bisschen BP-artig“ sein.
Oder man könnte „hautpsächlich eine BP haben“, aber doch auch Symptome haben, die sonst nur
„rein Schizophrene“ Patienten aufweisen. Oder eine BP und gleichzeitig eine schwere Angstörung, schwere Zwänge….
Umgekehrt könnte, hypothetisierend, das Vohandensein von gewissen schützenden Genen, den Verlauf der
Erkrankung günstig beeiflussen.
Diese Sicht der Dinge entspricht wohl auch am ehesten der klinischen Wahrheit.

Die Psychiatrie ist es lange gewöhnt, in den seit langem bestehenden Kategorien zu denken.
Diese haben sicher auch zum Teil immer noch ihre Berechtigung;
Die Erkenntnisse der letzten Jahre scheinen aber sehr dazu geeignet, ein großes Umdenken
einzuleiten und einen völlig neuen Blick auf psychiatrische Erkrankungen und die
extrem große Variabilität und Individualität der Patienten zu ermöglichen..

Genaueres kommt demnächst in dieser Rubrik.

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